Die pädagogische Superformel?

Die pädagogische Superformel-Haltung!

Von Andreas Schiller.

Wenn dich jemand bitten würde, all deine pädagogischen Erfahrungen in einem Satz, besser noch in einem Wort, zusammenzufassen, welches Wort wäre das? Nimm dir einen Augenblick Zeit und denke an die Bandbreite deiner pädagogischen Erfahrungen – sowohl an die beruflichen, als auch an die privaten.

Wie viele Studiengänge, Fortbildungen, etc. hat man schon gemacht, wie viele Bücher und Artikel schon gelesen, und am Ende … am Ende steht wieder mal ein Ordner oder ein Buch im Regal. Was davon ist wirklich in der komplexen, nicht vorhersehbaren Dynamik einer pädagogischen Situation in genau dem entsprechenden Moment anwendbar? Ich wage zu behaupten, dass niemand in diesen Situationen sein Pädagogikstudium o.ä. gedanklich präsent hat. Alle Aus- und Fortbildungen in Ehren, aber woraus genau besteht ein (oder das) Kernelement pädagogischer Situationen, bzw. wie ist dieses im kritischen Moment abrufbar?

Offensichtlich hat die Überschrift des Artikels dich zum Lesen eingeladen, das freut mich. Es ist nicht wirklich notwendig zu erwähnen, dass es diese Superformel natürlich nicht gibt. Es gibt kein Verhalten meinerseits, dass – wenn es nur richtig ausgeführt wird – ein gewisses Verhalten des Kindes zur Folge hat.

Ich bin jedoch überzeugt, dass es eine pädagogische Superhaltung gibt, die den Nährboden bildet für alle zwischenmenschliche Begegnungen in pädagogischen Situationen, aus denen alle Beteiligte (Kind und Eltern, pädagogische Fachkraft, Schüler*in und Lehrkraft, etc.) bereichert hervorgehen.

Anders ausgedrückt: Das Sein kommt vor dem Tun. Wer bin ich für das Kind, und wer ist das Kind für mich? Sehe ich vor allem „Verhaltensauffälligkeit“(1) und suche dementsprechend nach cleveren Interventionen, um diese zu beheben? Oder sehe ich einen jungen Menschen, der im Kern genau die gleichen Bedürfnisse hat wie ich auch, der aber bei der Erfüllung seiner Bedürfnisse einen zu hohen Preis bezahlt, weil er noch nicht gelernt hat, diese in Einklang mit seinen anderen Bedürfnissen bzw. mit den Bedürfnissen seiner Mitmenschen zu bringen?

(1) An dieser Stelle sei angemerkt, dass in dem Moment, in dem ich mit dem Kind in eine Eskalationsspirale einsteige, meine pädagogischen Interventionen auf das Kind mindestens genauso „verhaltensauffällig“ wirken wie sein Verhalten auf mich.

Es geht meines Erachtens im Kern um eine am Menschen selbst interessierte Haltung, die in sich selbst schon ihren Sinn hat – losgelöst von der Erwartung eines entsprechenden Ergebnisses. Das pädagogische Ergebnis – wenn man es so nennen will – ist dann sozusagen eine Art willkommenes Nebenprodukt.

Diese Haltung lässt sich sehr gut mit dem Wort Präsenz ausdrücken. Damit ist keine Kontrolle oder Überwachung gemeint, sondern eben die Haltung, mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, Aufmerksamkeit und Sensibilität ganz bei dem zu sein, was gerade zwischen dem Kind (oder den Kindern) und mir passiert. Ganz da sein. Oder etwas genauer: Ganz als das, was ich bin, im Jetzt und Hier, bei meinem Gegenüber sein. Keinen Fokus auf Interpretieren oder Intervenieren. Nicht in der Vergangenheit grübeln oder in die erwünschte Zukunft linsen, sondern zunächst einfach wirklich präsent sein, offen für eine authentische Begegnung zweier Menschen, die die Erlaubnis und das Potential hat, beide Menschen nachhaltig zu verändern. Nicht trotz der Spannung, trotz des scheinbaren Interessenkonfliktes, sondern gerade deswegen.

Es ist nicht verwunderlich, dass das Thema Präsenz in verschiedensten therapeutischen, pädagogischen, systemischen, philosophischen oder kommunikationspsychologischen Konzepten vorkommt. Ob bei Carl Rogers Personenzentrierter Gesprächstherapie, bei der empathischen Verbindung in der Gewaltfreien Kommunikation, der wachsamen Sorge in der Neuen Autorität, der Ich – Du – Beziehung von Martin Buber oder dem AAO – Geschenk in der Embodied Communication von Storch/Tschacher, (u.v.a.) überall spielt die Präsenz eine zentrale Rolle.

Das ist meiner Erfahrung nach die Haltung, die für alle Beteiligten zielführend ist, die den pädagogischen (Arbeits-)Alltag erleichtert und die das Leben nachhaltig bereichert. Außerdem ist diese Haltung trainierbar und sie ist in der hochkomplexen, dynamischen Situation abrufbar – im Gegensatz zu dem Bücherregal voller Methoden und Konzepte.

Um einem Missverständnis vorzubeugen, es geht mir nicht um ein entweder – oder. Die Haltung ersetzt nicht die pädagogische Vor- und Nachbereitung, sondern sie ergänzt diese und ermöglicht, dass diese überhaupt wirksam werden kann.

Martin Buber bringt diese Haltung in einem wunderschönen Zitat auf den Punkt: „Trotz aller Ähnlichkeiten hat jede lebendige Situation, wie ein neugeborenes Kind, auch ein neues Gesicht, das es noch nie zuvor gegeben hat und das auch nie mehr wiederkehren wird. Die neue Situation erwartet von dir eine Antwort, die nicht im Vorhinein vorbereitet werden kann. Sie erwartet nichts aus der Vergangenheit. Sie erwartet Präsenz, Verantwortung; sie erwartet – dich.“

Der Versuch, einige praktische Tipps zu geben, ist an dieser Stelle etwas widersprüchlich, denn dann geht es ja wieder um Handlungen – die das Potential haben, von der Haltung abzulenken. Trotzdem kann es hilfreich sein, persönliche Erfahrungen auszutauschen, daher tippe ich hier einige Dinge ganz praktisch an.

  1. Möglichst viel Augenkontakt. Natürlich nicht penetrant, sondern wohlwollend und aufmerksam. In angespannten Situationen je nach Gefühl eine angemessene Mischung zwischen direktem Blickkontakt und peripherem Gesichtsfeld.

  2. Weniger reden, mehr zuhören. Vorsicht vor vorschnellen Lösungen, zuerst braucht es Empathie, um die Situation zu beruhigen. Aktives Zuhören und Paraphrasieren sind sehr hilfreich, aber nur dann, wenn die dahinter liegende Absicht wirklich ein genaues Verstehen und Nachempfinden ist. Zum Zuhören bzw. Nachempfinden kann es für das Kind hilfreich sein, wenn man sich vorsichtig nach dem Bedürfnis (hinter dem Verhalten) erkundigt.

  3. Physisch präsent sein. Vorsicht vor der Falle, nebenbei Dinge zu organisieren. Nur das wirklich dringende parallel zum Schul- oder Betreuungsalltag organisieren – ansonsten: Handy zur Seite, Laptop zuklappen.

    1. An Lehr- und Erziehungskräfte: Wenn möglich schon vor dem Unterricht auf dem Schulhof präsent sein, mit Blickkontakt jedes Kind an der Tür namentlich begrüßen, ebenso in die Pause schicken und auch nach dem Schultag wieder verabschieden.

    2. Für Eltern: Das Kind bewusst und mit Blickkontakt in den Schultag verabschieden, sensibel sein für Dinge, die dem Kind (neben der eigenen To-Do-Liste) jetzt gerade noch wichtig zu sagen sind und mit derselben Haltung das Kind nach dem Schultag wieder empfangen.

  4. Auch psychisch präsent sein. Sich immer wieder bewusstmachen, dass jede Begegnung etwas Besonderes ist. Sich der Freude über die Begegnung mit dem Kind bewusst sein, und dieser Freude Ausdruck verleihen, statt schnell in eine reibungslose, effiziente Tagesroutine überzugehen.

  5. Und noch praktischer 😊 …Einfach mal mit seinem Kind einen Kuchen backen. Zusammen ein Spiel spielen. Mit dem Zug in die Nachbarstadt zum Eis essen fahren. Oder nach Paris fahren 😊. Gemeinsam im Zelt übernachten. Oder abends am Waldrand Tiere beobachten. Etc.

 

Andreas Schiller, Dipl. Sozialpäd./Soziale Arbeit (FH), überglücklich verheiratet und Papa von zwei prächtigen, wunderbaren Töchtern, arbeitet in der Jugendhilfe an einer Grundschule, wo sich Kinder und Er gegenseitig erziehen. Als systemischer Coach ist er zudem mit seiner Frau bei Dein Leben. leben. tätig.

 

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